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Die Anfänge der Rechtsinformatik in Österreich

  • Author: Arthur Winter
  • Category of articles: Legal Informatics
  • Field of law: Legal Informatics
  • DOI: 10.38023/6da40d7b-1c9e-425a-ad8a-549834671040
  • Citation: Arthur Winter, Die Anfänge der Rechtsinformatik in Österreich, in: Jusletter IT 29 June 2023
The beginnings of legal informatics in Austria go back to the 1970s, when the possibilities of using information technology for legal documentation were explored with the «Constitutional Law Experimental Project» in the Federal Chancellery. Significant development steps were the introduction of the legal information system RIS and the system «E-Recht» for the electronic support of the legislative process of the federal government. Friedrich Lachmayer played a key role in all of these projects.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Wie alles begann
  • 2. Das „Versuchsprojekt Verfassungsrecht“
  • 3. Von der Unterstützung des Rechtserzeugungsprozesses zur Rechtsdokumentation und zum „E-Recht“
  • 4. Wissenschaftliche Begleitung
  • 5. Prof. Dr. Friedrich Lachmayer

1.

Wie alles begann ^

[1]

Ende der 60er Jahre war bereits der Einsatz der EDV in einigen Ressorts im Gange. Dominierend war der Einsatz von Massendatenverarbeitung in der Statistik und im Finanzbereich. Aber der Großrechnereinsatz im Recht? Die klassische Antwort vieler Verwaltungsjuristen war: Wenn ich etwas zu rechnen habe, verwende ich einen Taschenrechner! Für textbasierte Systeme war die Zeit offenbar noch nicht reif!

[2]

Die rechtliche Einordnung der EDV war die eines Hilfsmittels der Verwaltung und fiel damit in den Zuständigkeitsbereich jedes einzelnen Ministers. Dennoch gab es bereits 1970 die „Vorläufigen Richtlinien für die Abfassung automationsgerechter Rechtsvorschriften“ durch das Bundeskanzleramt (BKA). Im Rahmen der EDV-Koordination im BKA, in der der Autor damals tätig war, gehörte es auch zu den Aufgaben, „Vorschläge für ein koordiniertes und rechtlich fundiertes Vorgehen bei der beabsichtigten Heranziehung von EDV-Anlagen“ zu erstellen. Die Sicht der Rechtsinformatik beschränkte sich aber im Wesentlichen auf Datenschutz und Rechtsdokumentation.

2.

Das „Versuchsprojekt Verfassungsrecht“ ^

[3]

Das BKA war innovationsfreudig genug, um die Probe auf das Exempel zu machen. So startete das „Versuchsprojekt Verfassungsrecht“. Es ging dabei um das Erforschen der Möglichkeiten der Speicherung und des Wiederauffindens von Rechtsstoff (anhand des Verfassungsrechts) mit den vorhandenen technischen Möglichkeiten. Mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sollte am Beispiel des Verfassungsrechts die Nutzbarmachung der elektronischen Datenverarbeitung ausgelotet werden. Getragen wurde dieses Projekt im Wesentlichen vom Verfassungsdienst des BKA und der Administrativen Bibliothek mit wissenschaftlichen Mitarbeitern aus dem universitären Bereich sowie der IBM. Während sich die IBM naturgemäß einen Wettbewerbsvorteil auf dem Markt erwartete, war es für das BKA die grundsätzliche Frage, inwieweit die Fülle der Rechtsvorschriften (am Beispiel Verfassungsrecht) aufgrund der technischen Möglichkeiten mit einer Rechtsdokumentation erschlossen werden könnte. Die Erkenntnisse sollten nicht nur für die Verwaltung und Justiz, sondern auch für die juristischen Verlage von Bedeutung sein. Das Projekt war ein wesentlicher Impuls für die „österreichische Reformbürokratie“. Allerdings zeigte das Projekt, dass zwar technisch die Möglichkeiten gegeben waren, aber das zu extrem hohen Kosten. Zur Orientierung: ein Bildschirmarbeitsplatz kostete damals ca. öS 250.000.-! Dazu kamen der hohe Aufwand für die Erfassung der Daten – sowohl intellektuell (z.B. Zuordnung zu bestimmten Kategorien) als auch manuell – sowie der Aufwand für die Speicherung der Daten. Das Projekt brachte zwar wesentliche Erkenntnisse, wurde aber schließlich aus Kostengründen nicht unmittelbar weiterverfolgt.

3.

Von der Unterstützung des Rechtserzeugungsprozesses zur Rechtsdokumentation und zum „E-Recht“ ^

[4]

Die Entwicklung der Textverarbeitung breitete sich in den 80er Jahren aus und fand in unterschiedlicher Intensität Eingang in die legistischen Abteilungen der Ressorts. Vom BKA-VD ging die Initiative aus, mit einer Standardsoftware den Rechtserzeugungsprozess effizienter zu gestalten. Die Gesetzentwürfe der Ressorts wurden mit Textverarbeitung erfasst und mittels Diskette an das BKA übermittelt. Nach Beschlussfassung durch die Bundesregierung wurde wieder eine Diskette an das Parlament weitergeleitet. Nach Abschluss der parlamentarischen Beratungen und Beschlussfassung im Nationalrat und Bundesrat wurde der Gesetzesbeschluss wieder an das BKA zur weiteren verfassungsmäßigen Behandlung und schließlich an die Staatsdruckerei zur Drucklegung im Bundesgesetzblatt weitergeleitet. Als Nebenprodukt dieses Prozesses waren vom Ressortentwurf über die Regierungsvorlage bis zum Gesetzesbeschluss sämtliche Dokumente als elektronische Dateien erfasst.

[5]

Es war daher naheliegend, die bereits erfassten Daten in einem Dokumentationssystem abzulegen. 1989 startete das BKA das Projekt „Rechtsinformationssystem des Bundes“ (RIS). Neben dem reinen Text war selbstverständlich eine intellektuelle Bearbeitung mit Zuordnung zu Kategorien etc. erforderlich. Das RIS enthält heute u.a. die Gesetze des Bundes und der Länder sowie die Entscheidungen der Höchstgerichte.

[6]

Aufgrund der erfolgreichen Umsetzung des RIS und der hohen Akzeptanz konnte ein weiterer Schritt gesetzt werden. Die Bundesregierung beschloss 2001, die gesamte Texterstellung im Rechtserzeugungsprozess nur mehr elektronisch zu betreiben und die Dokumente in einen elektronischen Geschäftsprozess zu integrieren; das „E-Recht“ wurde damit verbindlich gestartet.

[7]

Eine der Grundfragen der Rechtsdokumentation war das Verhältnis vom Staat zu den Privaten (Verlage). Da der Zugang zum Recht für jedermann gewährleistet werden sollte, übernahm es der Staat (das BKA), Gesetzestexte und Entscheidungen aufzubereiten, zu dokumentieren und unentgeltlich über das Internet anzubieten. Der Privatwirtschaft – insbesondere den juristischen Verlagen – blieb es vorbehalten, den urheberechtlich geschützten Bereich der Kommentare, der Aufbereitung von Entscheidungen und der rechtlichen Analyse gegen Entgelt auf dem Markt anzubieten. Bereits Mitte der 80er Jahre waren auf diesem Gebiet die RDB (Manz und Orac), LexisNexis, Linde online und die Österreichische Staatsdruckerei aktiv.

4.

Wissenschaftliche Begleitung ^

[8]

Da die angeführten Aktivitäten unter Federführung der Verwaltung betrieben wurden, musste auch deren Finanzierung aus dem laufenden Budget erfolgen. Öffentliche Förderungen in relevantem Umfang gab es für die Rechtsinformatik nicht. Eine der wesentlichen Initiativen von privater Seite war die Gründung des Vereins „Österreichische Computer Gesellschaft“ (OCG) im Jahr 1975 auf Initiative von Prof. Dr. Heinz Zemanek. Als gemeinnütziger Verein hatte er das Ziel: „Förderung der Informationstechnologie unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft“. Einer der ersten Arbeitskreise der OCG befasste sich mit der Rechtsinformatik.

[9]

An der Universität Wien organisiert die Arbeitsgruppe Rechtsinformatik seit 1997 das Internationale Rechtsinformatik Symposium (IRIS), das regelmäßig in Salzburg stattfindet. Diese wissenschaftliche Tagung hat mittlerweile einen Stellenwert erreicht, der weit über Österreich hinausreicht. Aktuelle Themen aus den Gebieten der Rechts- und Verwaltungsinformatik werden wissenschaftlich aufbereitet und diskutiert.

5.

Prof. Dr. Friedrich Lachmayer ^

[10]

Bei all den nur punktuell angeführten Ereignissen – und darüber hinaus – war Friedrich Lachmayer gestaltend und teils federführend tätig. Bereits im „Versuchsprojekt Verfassungsrecht“ leitete er die Arbeitsgruppe „Normentheorie“. Das EDV-Projekt „Rechtsinformationssystem des Bundes (RIS)“ leitete er ab 1989 und führte es zu einem großen Erfolg. In der Folge wurde er mit der Realisierung des Projekts „E-Recht“ betraut, das er gleichfalls erfolgreich umsetzte, sodass die authentische elektronische Publikation des Bundesrechts Realität wurde. Diese Meilensteine im österreichischen Recht sind beispielgebend für nachhaltige Umsetzung einer juristischen Vision.

[11]

Neben seinen vielfältigen wissenschaftlichen Tätigkeiten führte er die Semiotik als Wissenschaft von Zeichenprozessen in die juristische Welt ein. Es gab kaum einen Vortrag von ihm, der nicht durch graphische Darstellungen auf ein höheres Abstraktionsniveau gehoben werden konnte. Die Visualisierung war und ist ein Wesensmerkmal seiner Ausführungen. Auf den IRIS-Konferenzen, ebenso wie im Rahmen anderer Veranstaltungen, war er Wegbereiter darin, Texte in Graphiken zu transformieren.

[12]

Selbst in privaten Gesprächen mit Friedrich Lachmayer wurde spontan das Thema auf einem Block, den er immer mit sich führte, graphisch dargestellt. Diese Leidenschaft führte weit über das Feld der Rechtsinformatik hinaus in ganz andere Bereiche. So hat er u.a. Stellen aus der Bibel oder asiatische Weisheitslehren wie Kungfutse oder das I Ging in der ihm eigenen abstrakten Form visualisiert. Sein Anliegen war es dabei immer, Texte so in eine graphische Form zu transformieren, dass eine Konzentration auf den Kern der Aussagen erfolgt.

[13]

Seinen ganzen Lebenslauf mögen Berufenere darstellen. Hier sollte nur ein kurzer Abriss gegeben werden – wie alles begann!

Ad multos annos!

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