Jusletter IT

Künstliche Intelligenz in der Rechtsinformatik: weiblich, multikoloriert, buddhistisch

  • Author: Beate Maier-Glück
  • Category of articles: Visual Arts
  • Collection: Festschrift-Lachmeyer-2023
  • Visual Arts: Visual Arts
  • DOI: 10.38023/99c98b89-1ef0-4548-8ac0-8c5c50c0908f
  • Citation: Beate Maier-Glück, Künstliche Intelligenz in der Rechtsinformatik: weiblich, multikoloriert, buddhistisch, in: Jusletter IT 29 June 2023
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte)
[1]

Es gibt ein Bild von mir, das Die KI-KriegerIN heißt. Und, auf ein einziges Bit gebracht, meint es: Die KI wird weiblich und multikoloriert sein oder in einer Katastrophe münden. Dieser Satz versteht sich als notwendige Ergänzung der fünf Grundsätze der Ethik-Charta der Europäischen Union über den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Justiz und in ihrem Umfeld1.

Abb.: Die KI-KriegerIN, Gouache auf Papier, 50 x 70 cm, 2023.

[2]
Die fünf Grundsätze der Ethik-Charta über den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Justiz und in ihrem Umfeld:
1 GRUNDSATZ DER ACHTUNG DER GRUNDRECHTE: Es ist zu gewährleisten, dass die Konzeption und der praktische Einsatz von Instrumenten und Diensten der künstlichen Intelligenz mit den Grundrechten vereinbar sind.
2 GRUNDSATZ DER NICHTDISKRIMINIERUNG: Die Entwicklung oder Verstärkung jeglicher Diskriminierung von Einzelpersonen oder Personengruppen ist zu verhindern.
3 GRUNDSATZ DER QUALITÄT UND SICHERHEIT: Bei der Verarbeitung von gerichtlichen Entscheidungen und Daten sind nur zertifizierte Quellen und immaterielle Daten mit multidisziplinär ausgearbeiteten Modellen in einem sicheren technologischen Umfeld zu verwenden.
4 GRUNDSATZ DER TRANSPARENZ, UNPARTEILICHKEIT UND FAIRNESS: Die Zugänglichkeit und die Verständlichkeit von Datenverarbeitungsmethoden sowie die Ermächtigung externer Beurteilungen sind jederzeit zu gewährleisten.
5 GRUNDSATZ DES „UNTER KONTROLLE DER NUTZER/-INNEN“: Eine hinreichende Information von Nutzern/-innen als informierten Akteuren/-innen und ihre Kontrolle über die von ihnen getroffenen Entscheidungen sind zu gewährleisten. Präskriptive Ansätze sind insoweit unzulässig.
[3]

»Du bist ein Chatbot«, lese ich in Raphaela Edelbauers KI-Roman Dave.

»Ja«, lese ich dort als Antwort, »aber ich habe 8,4 tausend Antworten parat, was für einen Unterschied macht das?«
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Es macht einen Unterschied. KI, Künstliche Intelligenz heißt: Man kriegt nur raus, was man reingetan hat. Die Quellen der Rechtsdokumentation, der Rechtspflege in der westlichen Hemisphäre sind männlich und weiß, überwiegend männlich und weiß, seit jeher schon. Weiße Männer machen die Regeln, beschließen die Gesetze, nutzen sie zu ihrem Vorteil, seit jeher schon. Das Ergebnis ist die Welt von heute, eine Welt, die von Katastrophe zu Katastrophe stürzt. Deshalb muss die KI überproportional mehr mit dem gefüttert werden, was weiblich und multikoloriert ist. Sonst, sagen KI-ExpertInnen, dauert es 300 bis 350 Jahre, bis die männlich/weiße Dominanz der KI-gestützten Systeme einer geschlechterunspezifischen, klassenunspezifischen, rassenunspezifischen, überkonfessionellen, ressentimentbefreiten Neutralität gewichen sein wird. Das ist eine lange Zeit, die eine Welt multipler Katastrophen vielleicht gar nicht übersteht. Deshalb habe ich für mein Bild Die KI-KriegerIN einen Avatar gewählt, der weiblich und multikoloriert ist, in Ergänzung der Ethik-Charta der EU über den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Justiz und ihrem Umfeld. Einen Avatar, der, wie Klees Angelus Novus, die Zukunft im Rücken hat, die gigantischen Cluster aus sich verknüpfenden Daten, getrieben vom Sturm in den Fortschritt.

 

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Fortschritt. Die KI muss gefüttert werden, und es ist entscheidend, womit sie gefüttert wird. Und das hat viel mit KUNST zu tun. Die KI gewinnt ihre >Idee< aus der Anschauung der >Natur<, aus dem, was man ihr eingespeist hat. Vergleichbar ist dieser Ansatz der Kunsttheorie Giovanni Pietro Belloris, der 1664 schrieb: »Originata della natura supere lorigine e fassi originale dell arte«: Entsprungen aus der Natur, überwindet sie ihren Ursprung, und macht sich zum Vorbild der Kunst.

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Milliarden und Abermilliarden Datensätze aus dem Gebiet der Rechtsdokumentation, der Rechtspflege, der Justiz sind die >Natur< der KI, formen sich in riesigen Clustern zu >Ideen<, münden sprunghaft in der >Kunst< von Empfehlungen und Entscheidungen.

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Im besten Fall wird meine KI-Kriegerin deshalb zur Buddhistin. Sie flüchtet sich zu Buddha. Buddha, das heißt: „Es gibt nur noch das sehr einfache und sehr komplexe Bewusstsein einer Welt, in der alles zusammenhängt, einer Welt ohne Substanz.“ (Mathias Enard, Kompass). Eine Welt ohne Substanz, ohne >Glauben<, eine Welt der Summe, in der nur Erfahrung zählt.

  1. 1 https://rm.coe.int/charte-ethique-ia-en-allemand/16809fe3fe [aufgerufen 28.4.2023].

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