Liebe Leserinnen und Leser
Die Digitalisierung verändert nicht nur Wirtschaft, Verwaltung und soziales Zusammenleben. Sie verändert auch die Demokratie. Zuallererst schafft sie mehr Transparenz und bringt dabei Politik, Verwaltung und Bürger einander potentiell näher. Es wird einfacher, gegenseitig Informationen auszutauschen, beziehungsweise voneinander in Erfahrung zu bringen. Das ermöglicht eine effizientere und effektivere Zusammenarbeit und mehr demokratische Kontrolle.
Ein unerwünschter Nebeneffekt dabei ist, dass durch die neue Informationsfülle wichtige Informationen de facto versteckt werden. Ein zweiter unwillkommener Nebeneffekt ist, dass Informationen auch für jene zugänglich werden, die gar kein Recht darauf haben, weil aus digitalen Datensammlungen viele Informationen zu stehlen einfacher ist als aus Papierarchiven. Wir stehen leider mit dem Verständnis dieser Transparenzphänomene erst am Anfang. Einem potentiell riesigen Nutzen in Form einer Politik, die viel konsequenter als bisher im Gemeinwohl handeln kann, stehen auch grosse Risiken in vielfältiger Form gegenüber.
Analoges gilt auch für die Digitalisierung der Prozesse der Demokratie – vom E-Voting über das digitalisierte Policy Making bis zu digitalen Staatsbürgerschaften und sozialer Selbstorganisation im Netz. Dabei werden grosse Handlungshemmnisse beseitigt, über deren Existenz wird uns bis dato gar nicht im Klaren waren, weil wir die Welt nur analog verstanden haben. Und dabei entstehen wiederum neue Risiken.
Angesichts der gewaltigen Komplexität des Themas Digitale Demokratie – und angesichts der Erkenntnis, dass wir täglich mehr wissen, was wir nicht wissen – versucht diese Ausgabe den «Foifer uns Weggli»: Sie bringt sowohl Beiträge über das ganz Grundsätzliche und Philosophische als auch sehr konkrete auf Fachthemen bezogene Beiträge.
So zeigt Dirk Helbing auf, warum wir eine Demokratie 2.0 und damit eine digitale Demokratie benötigen. Die Zeit ist reif, auf die Entstehung einer datengesteuerten Gesellschaft zu reagieren. Ob Feudalismus 2.0, Faschismus 2.0, Kommunismus 2.0, Sozialismus 2.0, Demokratie 2.0 oder Kapitalismus 2.0 die Lösung ist, versucht er anhand von Beispielen zu beantworten.
Nachdem sich Eric Dubuis zu Formen, Stand und Ausblick der digitalen Demokratie mithilfe von Begriffsbestimmungen äussert, nimmt Rolf H. Weber zu Transparenz und Open Data Stellung. Er sagt: «Die Öffnung behördlicher Datenbestände und der Aufbau einer nationalen Dateninfrastruktur tragen zur Transparenz bei. Die durch die Digitalisierung entstehenden Herausforderungen für Open Data sind konsequent anzugehen und als Chance für ein künftig transparenteres Verwaltungshandeln zu gestalten.»
Matthias Stürmer warnt hingegen vor den relevanten Herausforderungen sowie möglichen (Schein-)Argumenten gegen offene Daten im Governance und zeigt auf, was beachtet werden muss, um sinnvollerweise Datensätze zu bewerten.
Am Beispiel Österreichs stellt uns Günther Schefbeck das dort 2004 eingeführte elektronische System zur Unterstützung des behördlichen Rechtsetzungsprozesses vor. Auch wenn solche Systeme inzwischen zum europäischen Standard herangewachsen sind und den Bürgerinnen und Bürgern grundsätzlich freien und gleichen Zugang zu den geltenden Rechtsvorschriften gewährleisten, also Transparenz schaffen, bleibt ein Bedarf an rechtlichem Wissensmanagement zur Unterstützung in der kontextsensitiven Interpretation von Normen bestehen.
Neben dem Themenfeld der Transparenz spielt die Partizipation gleich in mehreren Beiträgen eine grosse Rolle.
Erich Schweighofer unterstreicht, dass auf europäischer – und erst recht auf internationaler – Ebene eine Volksherrschaft im System der heutigen internationalen Beziehungen unrealistisch ist. Er befürwortet das Multi-Stakeholder-Modell mit Accountability. Dieses bleibt in internationalen und europäischen Entscheidungsprozessen höchst bedeutsam, da nur durch Festlegung von Politikentwicklungsprozessen, ausreichende Information, Schaffung von Partizipation, Gewährung von Mitentscheidung und Überprüfung des Prozesses selbst die Chancen einer fairen Mitwirkung aller relevanten Stakeholder – auch im globalen Rahmen – ermöglicht werden können.
Demokratische Haltungen haben in der Schweiz eine lange Tradition. Matthias Drilling betrachtet daher neue Formen der Bürgerbeteiligung in der Städteentwicklung durch Social Media in der Schweiz. Während klassische Verfahren wie Foren und Versammlungen nur Wenige erreichen und oft ein hohes intellektuelles Niveau verlangen, kann die E-Partizipation besser auf den Einbezug der Bevölkerung und die Förderung einer kollaborativen Meinungs- und Entscheidungsfindung abzielen.
Hans-Dieter Zimmermann nimmt die Schweizer Gemeinde Grabs als Beispiel für die E-Partizipation für Kinder und Jugendliche in der politischen Arbeit eines Gemeinwesens.
Mit einem politikwissenschaftlichen Beitrag bereitet Andreas Ladner den Weg zur Diskussion um Online-Wahlhilfen. Welchen Einfluss haben smartvote und ähnliche Webseiten auf unser Wahlverhalten? Nach welchen Parametern funktionieren diese Wahlhilfen? Wie können Nutzer lernen, mit der jeweiligen Wahlempfehlung umzugehen?
Grundsätzlich zum Wahlsystem äussern sich Robert Krimmer und Dirk-Hinnerk Fischer. So denken sie das Modell des negativen Wahlsystems als Weiterentwicklung des derzeitigen Wahlsystems durch. Erst durch technologische Neuerungen wird das vorgeschlagene System ermöglicht und ist so eingegrenzt, dass die Stabilität der Demokratie nicht angetastet wird.
Ich selbst analysiere in einem wissenschaftlichen Essay, welche ganz praktischen Fragen die bereits stattfindende Digitalisierung schafft, warum konventionelle, aus der Wissenschaft stammende Ansätze zur Öffnung des Policy Cycles so regelmässig scheitern und wie widersprüchlich die Ansprüche und Trends sind. Darauf aufbauend beleuchte ich vielversprechende Zukunftsperspektiven, die auf globalen Digitalisierungstrends beruhen.
Im Randbereich des Schwerpunkt-Themas Digitale Demokratie bewegen sich zwei Beiträge zu staatsrelevanten E-Government-Themen:
Nadja Braun Binder skizziert das sich vor einem Paradigmenwechsel befindliche Besteuerungsverfahren in Deutschland. Mittels Gesetzesänderung soll die Grundlage für «ausschliesslich automationsgestützt» erlassene Steuerbescheide geschaffen werden und im Januar 2017 in Kraft treten
Schliesslich bietet uns Balthasar Glättli einen Abriss zur Sicherheitspolitik im Informationszeitalter, der Rolle des Staates, den passenden Strategien und den daraus resultierenden angemessenen Reaktionen auf einen möglichen Cyberkrieg.
Ergänzend zu einzelnen Beiträgen sind in dieser Ausgabe die Referate, die an der eGov Fokus 2/2015 vom 6. November 2015 des E-Government-Instituts der Berner Fachhochschule zum Thema «E-Democracy – Neue Formen der Partizipation» gehalten wurden, als Podcasts enthalten:
- Erich Schweighofer, Accountability in internationalen und europäischen Entscheidungsprozessen (Podcast)
- Andreas Ladner, E-Voting – mögliche Vor- und Nachteile aus politikwissenschaftlicher Perspektive (Podcast)
- Reinhard Riedl, Partizipative oder simulative Demokratie? (Podcast)
- Johannes W. Pichler, Partizipatorische Demokratie in der Realverfassung der EU – unterentwickelt und unvollendet (Podcast)
- Rolf Hänni, Verifizierbare Internetwahlen – Technische Lösungen und Grenzen (Podcast)
- Uwe Serdült, Warum es nicht vorwärts geht mit der E-Partizipation (Podcast)
Gerne weisen wir Sie zusätzlich auf den am 16. Juni 2016 erscheinenden Jusletter IT Flash hin. Passend zum Thema werden dort Podcasts zu E-Government sowie E-Democracy publiziert (Referate im Rahmen des jährlich stattfindenden IRIS in Salzburg). Als Abonnent von Jusletter IT haben Sie vollen Zugriff auf die in der Kategorie Flash publizierten Inhalte. In unregelmässigen Abständen werden dort Beiträge, Podcasts und wichtige Informationen zwischen den regelmässigen Jusletter IT-Ausgaben veröffentlicht.
Ich wünsche ihnen viel Freude beim Lesen, Hören und Sehen dieser Ausgabe!
Bern, im Mai 2016
Berner Fachhochschule
Redaktor Jusletter IT E-Government